M99 – Gemischtwaren mit Revolutionsbedarf

Berlin ist groß und bietet ein breites Spektrum. Sowohl an Bevölkerung als auch an Ansichten. Und naturgemäß auch in seiner Geschäftswelt. Hier findet man wirklich Sachen, die man sonst selten oder gar nichts findet. Hat was vom Alten Fritz und seinem Haarschnitt. Der Fasson. Wobei sich natürlich auch in Berlin Dinge ändern — und die Tage exotischer Geschäfte mitunter gezählt sind.
In Kreuzberg, diesem einstigen Revolutions-​Biotop, in dem der Tag der Arbeit noch heute anders gefeiert wird als im Großteil der Republik, gibt es M99, oder gab es? Denn dem Laden droht wohl massiv die Räumung nach ein verlorenen Prozess. Und so kann alles bald schon Historie sein, was ich jetzt hier und heute an Eindrücken veröffentliche.
Ein nicht nur virtueller Berliner Freund hat mich auf den Laden aufmerksam gemacht, über den es zuletzt Presseberichte gab. Und just am Tag meiner Fahrt nach Berlin hatte es dieser Laden auch in die SZ geschafft.
In einer Ecke im Kreuzberg, in die man sich als normaler Städtereisender nicht verirrt (Städtereisende in Zusammenhang mit dem 1. Mai, die diesen vor Ort besonders feiern wollen, tun sich damit wohl leichter), erkennt man M 99 gleich von außen. Es ist der Laden, so dem draußen alles mögliche an Klamotten hängt. Und man kann Flugis to go pflücken. Um es gleich mal vorweg zu sagen: Von außen sieht der Laden eigentlich am Aufgeräumtesten aus *lol*
Bereits ein Blick von den Treppenstufen in den Laden zeigt, dass Klaustrophobiker hier so viel verloren haben wie Veganer im Schlachthof.
Ich lebe zwar selbst das Motto «Nur langweilige Menschen haben eine piekfein aufgeräumte Wohnung» aus und bin auch bei uns nicht für das am besten aufgeräumte Büro bekannt — aber der optische Zustand erinnert schon an einen bekannten argentinischen Fußballer.
Undenkbar, wenn hier ein Feuer ausbräche — zumal der Inhaber im Rollstuhl sitzt.
Wenn sich ein Laden als Laden mit Revoutionsbedarf bezeichnen darf, dann wirklich dieser Laden. Bei den Unmengen Büchern und Heften findet man vermutlich zu jeder Theorie was.
Und in mir kamen Erinnerungen an alte Zeiten auf, als ich klassische Spuckis wie «Parke nicht auf unseren Wegen» gesehen habe. Lang lang ist’s her… Nein, ich sage jetzt lieber nichts näher– aber haben wir nicht alle unsere Jugendsünden? Bei mir liegen die wirklich lange lange zurück. Vorteil eines Alten Sacks.
Aufkleber und Auffährt, die man hier bekommt, sind zu einem nicht unerheblichen Teil für meine Begriffe nicht unfraglich und bewegen sich in Grauzonen, zumindest aber gewissen Strafbarkeitslücken im Bereich der Kollektivbeleidigung.
Was es hier wohl alles zu geben vermag? Vielleicht auch Mollis to throw unter der Ladentheke? Dazu müsste man vermutlich nur den Inhaber mal näher fragen, der offensichtlich ein nicht ganz ungesprächtig gebürtig süddeutscher Zeitgenosse zu sein scheint (man hört die fränkische Herkunft durchaus raus).
Bei unserem Besuch hatten wir das Vergnügen, eine Unterhaltung des Inhabers mit einem Kunden, der hier irgendwas gekauft hat (wir selbst haben nur geguckt und sehr wenig angefasst), mitzubekommen. Sagen wir es mal so: Der Inhaber ist schon sehr speziell. Vielleicht fehlt mir aber auch zu sehr das Weltbild, um ihm inhaltlich zustimmen zu können.
Für alle Nachwuchs — und Möchtegern-​Revolutionäre, vielleicht auch für langhaarische Bombeleescher (sorry, das kann ich nicht auf hochdeutsch schreiben– jeder, der aus dem Rhein-​Main-​Gebiet kommt oder zumindest dort mal gewisse Zeit gelebt hat, dürfte den Ausdruck kennen) ist der Laden, so lange es ihn noch gibt, sicherlich ein Paradies.
Gesamturteil? Schwierig. Zumal mit der Vergleich mit anderen Trödelläden mit Revoutionsbedarf fehlt. An sich eher drei Sterne. Aber irgendwie ist der Laden schon cool. Und trashig. Deshalb letztlich alles in allem irgendwie schon vier Sterne. Denn stöbern lässt es sich hier eindeutig. Auch wenn man sich kaum zu bewegen traut.
Ob hier Kreditkarten akzeptiert werden? Wohl eher nicht. Vielleicht wäre es mal eine schöné Herausforderung, hier revolutionäre Ware mit einer AmEx bezahlen zu wollen. Oder den Laden mit Anzug und Aktentasche zu betreten. Oder beides zusammen.
Kinderfreundlich ist es auf keinen Fall– und Fahrradständer habe ich keine direkt vor der Tür gesehen. Aber der Außenbereich ist ja mit Ware voll.

Kreuzberg — X-​Berg — SO 36 — war früher revolutionär, alternativ, kämpferisch, links, aufsässig, zersetzend, kritisch, oppositionell, rebellisch, aufrührerisch und vieles mehr. Anders, als der damalige Rest von Deutschland!
An das Alles erinnert heute nur noch sehr wenig. Die besetzten Häuser sind weg. Alternative Lokale und Läden sind dem Kiez entflohen. Der Ortsteil wurde nach der Wende massiv aufgewertet. Aus dem ideologischen Bezirk SO36 wurde eine touristische Attraktion für jedermann. Politische Parolen von damals fehlen komplett.
Die letzte Insel der Revolution ist das M99. Schon von weiten kann der Besucher die Exklusivität des Geschäfts in der Manteuffelstrasse 99 erkennen.
Sofort kommt mir die Idee, hier könnte Unilocal ein tolles Elite Event ausrichten. Ob der Betreiber da mitspielt?
Ja, der revolutionäre Betreiber hier ist ein Bayer. Seit ca. 30 Jahren verkauft er hier seine exklusiven Dinge.
Wer ihm zuhört, merkt kaum, dass er schon so lange hier verkauft. Berliner Dialekt fehlanzeige.
Der Laden wirkt anders als alles andere, was ich zuvor kannte. Selbst unaufgeräumte Trödelläden lassen ein besseres System erkennen. Verkauft wird hier viel und alles ist vermischt und vermengt. Auf Stapeln, in Regalen, an der Decke hängend werden die Waren hier werden regellos feilgeboten. Für den Einen ein Schock, für den Anderen die Bestätigung seines eigenen Lebensstils.
Vielleicht bleibt ja die letzte Insel des alten Kreuzberg erhalten. M99 ist zur Zeit in Kündigung durch den Vermieter. Presse, Gerichte und Behörden thematisieren das M99. Eine Räumung droht.
Tipp: Besuchen Sie das M99 solange es noch lebt!

The same grizzled dude has been working this place for eternity, and he barks orders at you when you walk in because he uses a wheelchair and he doesn’t want the precarious shelves to get knocked over. There are definitely pieces of broken glass on the floor buried under GDR era military surplus overalls and lots of leftist zines and pamphlets. I have no idea how many stars to give the place so I’ll just leave 5 up there and let you decide.

Eigentlich spricht der Name des Ladens schon das aus, was es ist. Das «M99 Gemischtwaren mit Revolutionsbedarf» hat so ziemlich alles, was der urbane Guerillakämpfer für den Straßenkampf benötigt: von der nötigen Basisliteratur, einer der Goßstadt angemessenen Tarnklamotte und einer Überlebensausrüstung bis hin zum Schlagstock und Pfefferspray. Eine Revolution will ja schließlich nicht ohne «gute Argumente» geführt werden.
Der Besitzer ist neben seiner Tätigkeit als Kremer und Trödler auch Hobbytherapeut, und wird dies im Verkaufsgespräch auch niemals müde zu betonen. Irgendwann hat man dann auch genug gehört. Auf dem Weg nach draußen kommt mir der Gedanke, dass mit Revolutionsbedarf vielleicht auch etwas anderes, tiefergründiges gemeint sein könnte. Eine Art Hilfeschrei?
Selbst wenn ich was gefunden hätte, kaufen würde ich in dem Laden nur dann etwas, wenn mich jemand mit der Machete bedrohen würde. Trotzdem irgendwie beeindruckend, wie jemand so viel Müll auf einmal anhäufen kann und scheinbar trotzdem immer noch Geld damit verdient. Naja, für den Hostingdienst hat es scheinbar nicht mehr gereicht, die Website ist definitiv abgeschaltet.