Ohmstr – Erinnerung

Heute machte ich mich zu Fuß auf den Weg zur Ohmstraße in Kreuzberg. Nach den Tagen des vielen Lesens wird es mir gut tun, dachte ich, das Haus mit der Nummer 1 vor mir stehen zu sehen. Wie konnte es sein, dass von ganzen Familien nur noch Namen übrig geblieben waren auf Karteikarten oder Transportlisten, Geburtstage, Geburtsorte, vielleicht noch eine Staatsangehörigkeit. Mir kamen einige Verse Rilkes in den Sinn. Ja, manchmal hatte man zwei Augen zu viel, wenn man immer wieder vor dem gleichen Bild steht. Mit dem Handrücken ausgelöscht. Ich hoffte, dass zumindest das Wohnhaus noch stand, vielleicht roch es noch nach ihnen
Es muss Jahre her sein seit ich einer Photographie immer wieder mal begegne. Wir hatten mit Freunden das Konzentrationslager Auschwitz besucht.
Einige Wochen davor waren i Deutschland Flüchtlinge angegriffen worden, einige Flüchtlingsheime waren in Brand gesetzt worden und es hatte Tote gegeben. Ich werde mich immer an diesen Mann in der voll-​bepissten Jogginghose erinnern und die Hand mit dem Hitler-​Gruß, da es mich zeitweise mit dem falschen Trost beschwichtigt: Es waren doch nur Dummköpfe. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich dieser Tage an eine endgültige Ausreise gedacht und mir trotzdem ein langes Seil gekauft, diesen im hintersten Raum deponiert, wo ein Hochbett stand, an dessen Träger ich es sicher binden und notfalls meine Kinder in Sicherheit bringen konnte. Heute schmunzle ich darüber.
Ich einem der Schaufenster in Auschwitz war ein Einlieferungsschein ausgestellt. Sofort fiel mir der Geburtsort des Häftlings auf: Symrna. Sollte ich mal zurückkehren in die Heimat, wie meine Mutter die Türkei so selbstverständlich nannte, hatte ich mir diese schöné Stadt an der Ägäis ausgesucht. Dieser Mann aus der Vergangenheit kam aus meiner zukünftigen Stadt. Wie war er hier gelandet? Er hatte drei Kinder wie ich. Ich ließ den Schein photographieren und fand heraus, dass er in den Jahren des 1. Weltkrieges, wo Türken und Griechen gegeneinander und doch miteinander diese Perle an der Ägäis, die Stadt der Türken, Griechen, Juden und Armenier nach Gutdünken gesäubert hatten, nach Paris gekommen war, um hier von den Nazis verschleppt zu werden. Ich lernte, dass es türkische Juden gab.
Türkische Juden lebten auch in meinem Berlin. Und zu den ersten Juden, die aus meiner ehemaligen Heimat nach Berlin gekommen waren und in den Tod transportiert wurden, zählten die Bewohner der Ohmstraße 1 in Kreuzberg:
Sara Cohen und ihre Kinder Ruben, Sultana, Victoria und der 3-​jährige Gabriel; Lisa, Rebeka, Rachel, Rose und Albert Meschoulam; Pela und Lea Jahisch (geb. Meschulam).
Ich bog von der Kommandantenstraße in die Heinrich-​Heine-​Straße und für eine kurze Zeit schaffte es dieser Kerl von der Matratzengruft, dass all die Traurigkeit in mir verflog. Leise zog eine Wonne durch mein Gemüt. Hinter der U-​Bahn bog ich nach rechts, dann an der ersten Straße links erblickte ich ei Straßenschild, worauf stand: Ohmstr., darunter 1 – 7. An der Ecke stand ein Neubau. Kurz glaubte ich, das Haus stünde nicht mehr. Doch bald stand ich vor einem restaurierten Altbau mit der Hausnummer 1. Einige Minute lief ich vor dem Haus hin und her, schaute in eine Leere, ohnmächtig. Dann lief ich nach Hause zurück.