Bohnenviertel

Ich finde es dort lustig. In diesem Viertel geben sich die Absurditäten und Kuriositäten die Klinke in die Hand. Gerade noch den Waldorfkindergarten (kein Scherz der ist mittendrin) und den Puppen– und Bärendoktor (repariert antiquierte Teddies und Puppen) verdutzt angeguckt, werde ich ein paar Schritte weiter von 3 Damen eingekreist, die an meine Jacke zupfen und mir Ihre All Inclusive Angebote, schlimmer als jeder Handyshopangestellte, ins Ohr raunen. Und das um 12 Uhr mittags. Meine vorgespielte Vorliebe zu Männer nehmen mir die Expertinnen in diesem Moment auch nicht ab. Wieder freigezupft laufe an einer Bar vorbei, wo die immer gleiche Asiatin im Türeingang sofort Ihr noch zuvor so wichtiges Gespräch unterbricht und mich wie die Hexe bei Hänsel und Gretel ins Knusperhäusle locken will. Geht nicht heute hab ichs aufs der Leber. Traditionell gibt es bei jedem Vorbeigehen eine neue Ausrede. Das ganze Viertel ist ein Freiluftvergnügungspark mit allerlei skurilen Dingen und teils netten Geschäften und Cafes.

Kultviertel mit kleinen Geschäften, Lokalen und Cafés .
Das Bohnenviertel hat einen besonderen Charme und lohnt sich, entdeckt zu werden.

Früheres Armeleuteviertel, eigentlich «Leonhardsvorstadt» genannt. Das Hauptnahrungsmittel, die Gartenbohne, brachte dem Gebiet den Beinamen Bohnenviertel ein.
Graf Eberhard (nein, nicht der «im Barte» sondern «der Milde») von Württemberg brachte gegen 1400 von einer Reise nach Prag die Idee einer Stadterweiterung mit. Entsprechend dem Muster der zu diesem Zeitpunkt fertiggestellten Prager Neustadt entstand im Süden der Stadt der planmäßige Ausbau der Vorstadt um einen zentralen Handelsplatz — die Hauptstätter Straße, benannt nach der nahegelegenen Hinrichtungsstätte (man ent-​hauptete damals die meisten Delinquenten) mit der Leonhardskirche.
Im Bohnenviertel wohnten die Handwerker, die auf das Wasser des Nesenbachs angewiesen waren, z. B. Gerber, Färber, Wäscher, Bäcker, Metzger, oder deren Feuerstellen Gefahr bedeuteten wie Schmiede, Töpfer oder Wagner.
Bohnenpflanzen wurden in den Gärten hinter und zwischen den Häusern gepflanzt, mit ausdrücklicher amtlicher Genehmigung wurden sie sogar girlandenförmig an den Häusern aufgehängt. Um die Bohne gab es vielerlei Bräuche, Lieder und Reime. Zum Beispiel wurde einmal im Jahr ein Kuchen gebacken und in Stücke aufgeteilt. In einem befand sich eine Bohne. Wer dieses Kuchenstück bekam, wurde zum «Bohnenkönig» gekrönt und durfte bei einem Gelage Hofstaat halten. Am Schluss folgte nach übermäßigem Essen und vor allem Trinken ein in Gebrüll ausartender Gesang ohne feststehenden Text, der im Volksmund als das «Bohnenlied» bezeichnet wurde. (Anläßlich des jährlichen Bohnenviertelfestes kann man unschwer feststellen, dass sich die schöné Tradition des Bohnenliedes bis heute gehalten hat — besonders nach 22 Uhr und meist sogar von Leuten, die weder Bohnenkönig sind noch überhaupt aus dem Bohnenviertel stammen!)
Gegen Ende des 19. Jh. herrschte in Stuttgart im Zuge der Industrialisierung ein massiver Bedarf an Wohnungen. Alles was ging wurde zugebaut, Hinterhöfe, Vorplätze, Gärten…(nunja daran hat sich bis heute nicht viel geändert!). In den Innenbereichen der neu erstellten Blöcke siedelten sich Gewerbebetriebe an.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verkam das Viertel ein bisschen. Niemand steckte wirklich etwas in die alten Häuser und Straßen. Ende der Siebziger wurde daher ein Wettbewerb ausgeschrieben, mit dem Ziel einer «erhaltenden Erneuerung mit Rücksicht auf den quartiertypischen Charakter des Bohnenviertels». Wichtig war dabei, die Mischung von Wohnen und Arbeiten zu erhalten, den vorhandenen Altbaubestand zu erhalten und die Neubebauung anzupassen. Die Innenhöfe sollten begrünt und mit Kinderspielplätzen versehen und der Verkehr sollte beruhigt werden. In den 90-​ern wurde die Sanierung durchgeführt.
Nun, es ist gut gelungen und das Armeleuteviertel mauserte sich zu einem der malerischsten in Stuttgart-​City, wenn auch der Lärm sich nicht ganz eliminieren lässt (das Viertel liegt genau zwischen zwei Bundesstraßen). Zwar gibt es jetzt weniger Handwerker als Kunstgalerien, Antiquariate, Antiquitäten-​, Geschenk– oder Schmuckläden und weniger Kneipen als gute Restaurants und edle Weinstuben aber der Grundcharakter ist wieder da.
Auch wenn das Wohnen dort bestimmt nicht mehr billig ist: man kann drauf warten dass im ersten Hinterhof-​Gärtle wieder Bohnen wachsen!