Karl-Marx-Hof

Bekämpfung von Armut, Elend und Platzmangel. Von Mietwucher, finanzieller Ausbeutung und Abhängigkeit. Verbesserung der Hygiene, Förderung des sozialen Zusammenhalts, Schaffung kultureller und erzieherischer Angebote. Kurz, die Demokratisierung von Wohn– und Lebensräumen. Eine wunderbare Idee, daran besteht kein Zweifel. Verwirklicht werden sollte sie im seit Ende des Ersten Weltkriegs sozialdemokratisch dominierten Wien, dem Roten Wien der Ersten Republik. Seit 1922 Österreichs neuntes Bundesland, initiierte die Politik im Laufe weniger Jahre auch im europäischen Maßstab beispiellose Wohnbauoffensiven, um der nach Kriegsende dramatischen Wohnsituation Herr zu werden.
Eine zweckgewidmete Wohnbausteuer, die Luxusgüter überproportional belastete, spülte Geld in die Kassen. Es entstanden gut 65.000 Wohnungen in 398 Gemeindebauten. Weit mehr als 200.000 Menschen fanden wesentlich verbesserte Lebensbedingungen, vor allem einkommensschwache Stadtbewohner sollten bevorzugt behandelt werden. Fünf bis acht Prozent des Durchschnittslohns betrug die Miete für die in der Regel 40 bis 50 Quadratmeter großen Räumlichkeiten, ein Bruchteil der bis dahin gängigen Beträge. Gas– und Stromtarife hielt man niedrig, Grundrationen an Wasser waren kostenlos. Aus Gründen der Effizienz dominierten bald große Wohnanlagen, entworfen von führenden Baukünstlern ihrer Zeit. Der Rabenhof Heinrich Schmids und Hermann Aichingers, der Reumannhof Hubert Gessners, der Victor-​Adler-​Hof Engelbert Mangs. Allesamt Schüler des großen Otto Wagner. Wie auch Karl Ehn, Architekt des drittgrößten und bis heute bekanntesten Wiener Gemeindebaus, des Karl-​Marx-​Hofs.
Zwischen 1927 und 1930 wurde sie errichtet, diese in 1.382 Wohnungen rund 5.500 Bewohner zählende Stadt in der Stadt, mit gut einem Kilometer der längste zusammenhängende Wohnbau überhaupt. Knapp neunzehn Prozent der über 150.000 Quadratmeter großen Grundfläche sind verbaut, der Rest verteilt sich auf Grünflächen, Kinderspielplätze und Innenhöfe. Ein Arbeiterpalast sollte es sein. Man machte aus dieser Absicht keinen Hehl. Geradezu burgartig wirkt der rückversetzte Mitteltrakt mit seinen monumentalen, fahnenbekrönten Türmen, den streng symmetrischen Balkongruppen und Durchfahrten. Über letzteren Josef Franz Riedls programmatische Keramikfiguren «Aufklärung», «Freiheit», «Fürsorge», «Körperkultur». Sie fanden sich verwirklicht im Inneren des Gebäudes, das Wäschereien, Bäder, Kindergärten und Ärzte beherbergte, eine Mutterberatungsstelle, Jugendheim, Bibliothek, Zahnklinik und Ambulatorium, Apotheke und Postamt. Und ja, auch Kaffeehäuser und gut zwei Dutzend Geschäftslokale. «Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen», sprach Bürgermeister Karl Seitz bei der Eröffnung der Anlage im Oktober 1930. Sie sprechen noch immer.
Das Ende naht und unser Arbeitgeber, ja der will Ergebnisse sehen. Wir beugen uns dem Druck und schreiten ein letztes Mal die Siegerlisten ab. Furchtlos und unerschrocken gehen wir dem Schlussstein entgegen, zwischen ihm und uns nichts als zwanzig maßgebliche Werke modernen Architekturschaffens in Wien. Unter ihnen, so muss es sein, der wunderbare Karl-​Marx-​Hof. Noch einmal sammeln wir Sachverstand und Urteilsgabe, weisen ihm, integer und unbestechlich wie eh und je, den ganz zweifellos hochverdienten dritten Platz im Ranking zu, gratulieren herzlich und sagen Servus. Leise, wie es sein muss in Wien. Schön war’s, liebe Freunde, Kollegen, Wieneroberer, schön.
(Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Wo in Wiens mit modernen Baukunststücken ausgiebig behübschten Straßen finde ich die beeindruckendsten, bahnbrechendsten und überhaupt maßgeblichsten Profanbauten der Moderne?». Nähere Infos und Hintergründe unter
).

Als ich noch oben im 19. gewohnt habe, bin ich jeden Tag mit der Straßenbahn am Karl Marx-​Hof vorbeigefahren; weil auch die außergewöhnlichsten Sehenswürdigkeiten für den Einheimischen mit der Zeit den Reiz verlieren, habe ich kaum noch darauf geachtet. Aber es reichte immer schon eine kleine Erinnerung — ein Filmausschnitt, ein Gespräch — um mich der Geschichtsträchtigkeit des Baus zu erinnern und immer wieder auf’s Neue fasziniert zu sein.
Die größte der Wiener «Arbeiterburgen», wie die Gemeindebauten des Roten Wien auch genannt werden, der Karl Marx-​Hof, hat fürwahr viel zu erzählen. Von den großen politischen Krisen des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu den tausenden kleinen Geschichten der zahllosen Bewohner — der Gemeindebau hat sie alle gehört und überstanden. Ein faszinierendes Gebäude mit einer ebenso faszinierenden Geschichte.
Ein etwas weniger faszinierender Aspekt sind die vollkommen verschissenen Gehsteige und Grünstreifen rund um den Monumentalbau; aber das ist wohl nur eine der Konsequenzen des Zusammenlebens vieler Menschen — und ihrer Hunde — auf relativ engem Raum.

Erbaut wurde dieser Gemeindebau Ende der 20er von Karl Ehn, der ein Schüler Otto Wagners war.
Neben den üblichen Bewohnern sieht man durchaus auch Touristen hin und wieder interessiert durch den Hof spazieren und in den Architekturschulen der Welt, hört man während seines Studiums bestimmt mindestens einmal vom Karl Marx Hof, denn hierbei handelt es sich um einen der größten und berühmtesten Repräsentanten des kommunalen sozialen Wohnbaus in Wien.
Für Architektur und Geschichtsinteressierte ist er eine kleinen Ausflug wert.