Daily Blues

Es tut dem Gemüt gut, ab und an eine Auszeit zu nehmen. Der eine begibt sich dafür in ein tibetanisches Kloster, die andere in eine französische Wellness-​Oase. Ich aber nach Sopot, Danziger Bucht, Geburtsstadt von Klaus Kinski und Winfried Glatzeder und so etwas wie das Travemünde Polens.
Natürlich nicht unvorbereitet: laut
, dem wohl detailgetreuesten Individualreiseführer für den vormals politischen Osten Europas, hatte ich vorab auf meinem Anreisespickzettel insgesamt fünf Geheimtipps. Einer davon war tatsächlich ein Geheimtipp: der Daily Blues Club in der ul. Wladyslawa IV 1A.
Ankunft: ziemlich abseits der Flanniermeile Monte Cassino liegt das Daily Blues ca. 10 Fußminuten südlich vom Zentrum. Inmitten eines gutbürgerlichen Wohnviertels mit vielen Einzelhäusern fällt der kleine, flache Werkstattbau (beste Beschreibung vielleicht: dörflicher Biker-​Club) erst einmal kaum auf. Eine bunt bepflasterte Eingangstür, ein Hinterhoftor, eine Tyskie-​Bierreklame. Mehr braucht es offensichtlich auch nicht.
Atmosphäre: absolut relaxed. Obwohl ich des Polnischen keiner Silbe mächtig bin und für eine Woche der einzige Nichtpole im Club war, eine sehr freundliche Aufnahme, egal, ob von Gästen (Agata), Tresenbelegschaft (Lukas) oder Musikern (Piotr). Es dauerte keine 15 Minuten, dann war ich mit allen wichtigen Infos zur Lokalität und den kommenden Events in bestem Englisch vertraut.
Einrichtung: na so, wie man sich einen urigen Blues Club immer vorgestellt hat. Viel rot an den Wänden, die Decke mit Konzertplakaten tapeziert, gedämpftes Licht und die Stahlrohrstühle, Bistrotische und Polstersessel wären auch in einem feinen Café auf der Travemünder Vorderreihe angesagt. Das Lokal ist klein, hat verschiedene Ebenen mit einem kellergelegenen Hauptraum, einer kleinen erhöhten Bühne und nochmal ein offener, direkt anschließender erhöhter Nebenraum rechts von der Bühne. Dort mit Dartboard und Flipperautomat, das brauche ich aber in einem Musikclub nicht.
Publikum: in der Mehrheit zwischen 20 und 40 Jahre alt, die Mädels eindeutig in der Überzahl, 90% Biertrinker und Raucher (beiderlei Geschlechts), keinerlei Troublemaker. Man hat mir zu meinem Geburtstag ein A Capella Ständchen aller Gäste geliefert, obwohl den eigentlich keiner wissen konnte.
Preise: für Sopot absolut okay, für ein 0,5l, Tyskie– oder Warka-​Bier vom Fass habe ich 6 Zloty, knapp 2 Euro, bezahlt. Da Lukas hinterm Tresen am ersten Abend meinen 100 Zloty Schein (was anderes kam nicht raus aus dem Flughafen-​Geldautomaten) nicht wechseln konnte, habe ich den Schein dagelassen und ihn in einer Woche abgetrunken. Warum ich am letzten Tag trotz ausdrücklichen Protestes immer noch 60 Zlotys zurückbekam ist mir bis heute ein Rätsel. Außerdem stehen unter Flasche im Regal, auf jedem Zapfhahn usw. ganz dick die Preise einzeln aufgeführt. Also vergesst mal ziemlich schnell eure Bedenken vonwegen Polen = Beklau, Beschiss oder Bereicherung.
Sonstiges: legendär sind die Jam Sessions am Donnerstag. Da waren zunächst zwei Saxophone, Bass, Percussion und Keyboards. Eine Stunde später ein Solo-​Keyboarder mit Bluessänger. Eine Stunde später ach, kontrolliert und geniesst das selbst einmal. Wenn nicht Live-​Musik angesagt ist, gibt es Blues-​Konzerte per Beamer auf Leinwand. Von Allman Brothers bis ZZ Top.