Haus Wittgenstein

In Wahrheit zufällig folgen wir nun chronologischen Abläufen und kommen von Meister Loos zu Schüler Paul Engelmann. Der hatte über Vermittlung seines Lehrers Kontakt zur Industriellenfamilie Wittgenstein geknüpft und in deren Stadthaus verschiedene Räume eingerichtet. Margarethe Wittgenstein beauftragte ihn 1926 mit Entwürfen für ein Haus im dritten Bezirk und stellte ihm, grundgescheit wie sie war, ihren Bruder als gleichberechtigten Partner zur Seite. Nun gut. Besagter Bruder ließ Ludwig, hatte mit seinem kleinen Büchlein «Tractatus logico-​philosophicus» einige Jahre zuvor nach eigener Ansicht alle wesentlichen Probleme der abendländischen Philosophie gelöst und war dementsprechend in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Woran arbeiten, wenn alles geklärt schien?
Am schwesterlichen Haus. Das kam ihm Recht, dem jungen Genie, wo die «Arbeit an der Philosophie — wie vielfach die Arbeit in der Architektur — eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst» ist, so Ludwig später. Er nahm also die von Engelmann vorgelegten Pläné und arbeitete sie um. Fanatisch und unbelehrbar. Zwei volle Jahre lang. Zeichnete «jedes Fenster, jede Tür, jeden Riegel der Fenster, jeden Heizkörper mit einer Genauigkeit, als wären es Präzisionsinstrumente», so Schwester Margarethe. Und reduzierte den kubischen Baukörper zu «Formen, die nicht weiter reduzierbar erscheinen». Schlichtheit und Schmucklosigkeit in letzter Konsequenz — in Fortführung und als Manifest des philosophischen Purismus Wittgensteins und der Logik, der er zeitlebens verpflichtet blieb.
Das Ende naht und unser Arbeitgeber, ja der will Ergebnisse sehen. Wir beugen uns dem Druck und schreiten ein letztes Mal die Siegerlisten ab. Furchtlos und unerschrocken gehen wir dem Schlussstein entgegen, zwischen ihm und uns nichts als zwanzig maßgebliche Werke modernen Architekturschaffens in Wien. Unter ihnen, so muss es sein, das wunderbare Haus Wittgenstein. Noch einmal sammeln wir Sachverstand und Urteilsgabe, weisen ihm, integer und unbestechlich wie eh und je, den ganz zweifellos hochverdienten fünften Platz im Ranking zu, gratulieren herzlich und sagen Servus. Leise, wie es sein muss in Wien. Schön war’s, liebe Freunde, Kollegen, Wieneroberer, schön.
(Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Wo in Wiens mit modernen Baukunststücken ausgiebig behübschten Straßen finde ich die beeindruckendsten, bahnbrechendsten und überhaupt maßgeblichsten Profanbauten der Moderne?». Nähere Infos und Hintergründe unter
).

Nähert man sich dem Bulgarischen Kulturinstitut in der Parkgasse befindet man sich bereits auf geschichtsträchtigem Grund: auf dem Boden der ehemaligen Vorstadt Landstrasse, genauer dem Weißgerberviertel, in unmittelbarer Nähe zum Palais Rasumovsky, und hat nun das Haus Wittgenstein vor sich, das Ludwig Wittgenstein in den Jahren1926−28 gemeinsam mit einem Architekten für seine Schwester Margarethe errichten liess und selbst einrichtete, heute ein einzigartiges Beispiel der frühen Moderne in Wien. Der Grund, auf dem dieses architektonische Kleinod, in dem Wittgenstein selbst jedes noch so kleine Detail liebevoll entwarf, plante und ausführen liess, war zu Lebzeiten der Bewohnerin wesentlich größer — das Grundstück wurde leider zugunsten eines unsäglichen Versicherungsbaus geteilt. Trotzdem kann man sich noch recht gut vorstellen, wie der großzügige Garten die Wirkung des streng wirkenden Hauses unterstrichen hat. Eine Besichtigung der Innenräume, in denen nun das Bulgarische Kulturinstitut untergebracht ist und hier auch Lesungen und Gesangsabende veranstaltet, ist sehr empfehlenswert.